Wie gewonnen, so zerronnen!

"Ich denke, alles ist besprochen und soweit klar, was die gesamte Operation "Lucy" anbelangt. Oder habt ihr noch Fragen?" Franz Schlegel schaute zufrieden in die Runde. Seine beiden Freunde nickten zustimmend. Nein, sie hatten keine Fragen mehr. Alle wichtigen Details hatten sie am heutigen Freitagabend klären und entscheiden können. Es gab auch nicht viel zu koordinieren, das Unternehmen „Lucy“ war denkbar klar und einfach durchführbar.
Zufrieden und mit einem breiten Grinsen hob Franz Schlegel sein Whiskeyglas und prostete den anderen zwei zu: "Auf das diesjährige Fest und unsere Operation“, sagte er.
Sie stießen die Gläser zusammen und Schlegels Schulfreund Beat Kamber lächelte schelmisch: "Auf gutes Gelingen! Ich freue mich jetzt schon auf die Presse vom Dienstag."
"Ja, wenn es dann schon bekannt ist. Vielleicht wird es Mittwoch, bis die Medien etwas davon erfahren haben", meinte Richard Holzer, der Dritte im Bunde, und nippte genüsslich an seinem Glas.
Schlegel lehnte sich in seinem bequemen englischen Ledersessel zurück und ließ seinen Blick durchs Fenster hinüber zum Blinklicht des Üetlibergs schweifen. Er war gedanklich schon beim geplanten Überfall vom Montagabend und wollte sich nochmals alle Details und den Ablauf durch den Kopf gehen lassen. Schließlich war er der Initiator dieser Operation gewesen und somit zuständig für sämtliche Informationen und die Planung. Sie saßen, wie meistens bei einer abschließenden Besprechung für eine ihrer Operationen, bei ihm zu Hause in der Bibliothek, in seinem prächtigen Patrizierhaus, oberhalb des Hottinger Platzes. Mit „sie“ waren die drei Schulfreunde gemeint. Gemeinsam wuchsen sie in einem Dorf des Zürcher Weinlandes auf. Sie hatten ähnliche Interessen, unternahmen viel zusammen und waren für ihre Streiche im ganzen Dorf bekannt. Sie waren schon damals eine verschworene Gemeinschaft und gingen gemeinsam durch Dick und Dünn. Nach der Schule gingen ihre Wege auseinander, aber sie blieben immer in Kontakt. Kamber und Schlegel schlugen eine akademische Laufbahn ein und landeten beide im Bankengeschäft. Kamber bei einer kleinen Privatbank, die er schlussendlich bis zu seiner Pensionierung leitete. Schlegel machte Karriere bei der renommierten Bank Löwe. Holzer war der Praktiker und Handwerker unter ihnen. Er erlernte den Beruf eines Schlossers und konnte mit finanzieller Hilfe der anderen zwei Freunde ein kleines, sehr erfolgreiches Geschäft führen, das er vor zwei Jahren seinem Sohn übergab. Trotz Heirat und Familiengründung, nahmen sie sich immer zweimal im Jahr die Freiheit, sich zu treffen, um verschiedenen Aktivitäten nachzugehen. Am Anfang war es mehrheitlich Sport, den sie betrieben, aber je älter sie wurden, umso mehr verlagerten sich ihre Interessen zu ruhigeren Unternehmungen. Sie legten Wert darauf, ihre Freundschaft zu pflegen.
Plötzlich begann er zu lachen. „Das wird ein Riesenspass! Gerne würde ich die Gesichter des Aufsichtsrates sehen, wenn sie vom dreisten Raub erfahren“, schloss er immer noch lachend und holte sich eine Robusto seiner Lieblingsmarke Trinidad aus dem Humidor. Seine beiden Freunde erhoben sich fast gleichzeitig, um zu gehen. Sie wussten, dass ihr Freund jetzt Zeit für sich wollte. Beim Zigarrenrauchen würde er zum x-ten Mal ihre ganze Operation minutiös durchgehen und allfällige Schwachpunkte korrigieren. Schlegel begleitete seine Freunde zur Tür und verabschiedete sich von ihnen. Es nieselte leicht und es war schon recht kalt, typisches Novemberwetter. Seine Freunde hatten keinen weiten Heimweg. Kamber wohnte in Zollikon, ebenfalls in einem herrschaftlichen Haus mit schönem Ausblick aufs Zürichseebecken. Holzer musste den Bus über den Zürichberg nehmen, um nach Gockhausen zu gelangen. Dort bewohnte er zusammen mit seiner Frau ein kleines Einfamilienhaus.
Schlegel kehrte in seine Bibliothek zurück und goss sich nochmals Whiskey nach, saß in seinen Ohrensessel und paffte genussvoll seine Zigarre. Die Idee zur Operation „Lucy“ war ganz zufällig entstanden und versprach keine größeren Schwierigkeiten zu ergeben. Die Drei würden am Montagabend, während der Einweihung der neuen weihnachtlichen Bahnhofstrassenbeleuchtung, die Bank Löwe um einige Schweizerfranken erleichtern. Ein kleiner Geldtransport einer großen Einkaufskette der Stadt war auf den Montagabend zwischen Viertel vor acht und acht angekündigt. Und zwar wickelte sich die Lieferung immer noch so ab, wie es zu den Zeiten üblich war, als Schlegel noch Vorsitzender des Aufsichtsrates der Bank war. In einer engen Quergasse gab es einen kleinen Seiteneingang zur Bank und dort würden die zwei Angestellten des Transports die Geldkassetten in einem Zwischengang deponieren. Anschließend würden sie via interne Gegensprechanlage der Bank dem Nachtportier Bescheid geben. Sie mussten sofort wieder gehen, da sie den Transporter mit Fahrer nicht im allgemeinen Tumult der Einweihungsfeier mit den vielen zu erwartenden Leuten in und um die Bahnhofstrasse alleine lassen wollten. Bis einer der beiden Nachtportiers der Bank aus der Zentrale im ersten Stock hinunter zum Zwischengang kommen würde, um die Kassetten ins Depot zu bringen, würde ihnen knappe zwei Minuten für den Raub bleiben. Wegen des zusätzlichen Verkehrs an diesem Abend war es dem Geldtransportunternehmen anscheinend nicht möglich, eine genauere Zeitangabe der Lieferung zu machen. Und die Bank wollte nicht die ganze Zeit einen der beiden Nachtwächter unten warten lassen. So blieben die zwei Minuten, und Schlegel war zu dem Schluss gekommen, dass das ihre Chance war. Das Fehlen von Überwachungskameras in der Quergasse und im Zwischengang erleichterten die Operation. Schlegel erfuhr vom Sicherheitsverantwortlichen, dass es dieses Verfahren der Geldlieferung für Kleinkunden immer noch gab, anlässlich der alljährlichen Manager-Weihnachtsparty der Bank, zu der auch die Ehemaligen immer eingeladen waren. Er war zum ersten Mal seit seinem Rausschmiss anwesend. Kurz vor seinem Abgang vor fünf Jahren hatte Schlegel, aus welchen Gründen auch immer, alle wichtigen Schlüssel der Bank von seinem Freund Holzer illegalerweise nachmachen lassen. So würden sie mit Schlegels Schlüssel in den Zwischengang gelangen, die Kassetten plündern, sofort wieder gehen und im Gewühl der zahlreichen Zaungäste auf der Bahnhofstrasse ungesehen untertauchen können. Viel Geld wollten sie ja sowieso nicht stehlen. Es ging Schlegel darum, „seiner“ Bank eins auszuwischen. Die waren selber schuld. Schlegel kritisierte diesen Sicherheitsmangel noch während seiner Amtszeit und wollte ihn behoben haben, wurde aber immer wieder von den Mitgliedern des Aufsichtsrates überstimmt. Genau wie er mit seiner Forderung, sich von der engen Zusammenarbeit mit der Mutterbank Swissbank in Sachen Hypotheken soweit wie möglich zu trennen, nicht gegen die Mehrheit des Rates durchsetzen konnte. Im Gegenteil! Als die Leitung der Swissbank, von wem auch immer, erfuhr, dass er, Schlegel, diese Trennung immer wieder auf den Tisch brachte, forderte sie seinen Rücktritt. Und überhaupt war es an der Zeit, den ergrauten Herrn durch einen jüngeren, dynamischeren Manager zu ersetzen. Man unterbreitete ihm ein finanziell großzügiges Angebot, wenn er von sich aus zurücktreten würde, oder er würde bei der kommenden internen Wiederwahl im Herbst abgewählt und entlassen. Was blieb ihm anderes übrig? Er akzeptierte zähneknirschend und ging Sechzigjährig in Zwangspension. Dann folgten seine düstersten Jahre. Er konnte sich nicht mit diesem Abgang abfinden. Er verzweifelte fast, schloss sich in seinem Haus ein und vereinsamte immer mehr. Er wollte niemanden weder sehen noch treffen. Auch seine Frau Elsbeth konnte an seinem Zustand nichts ändern. Das dauerte ein ganzes Jahr und wäre seine Frau nicht plötzlich an Krebs erkrankt, würde er noch heute vor sich hinvegetieren. Leider ging es mit Schlegels Frau sehr rasch zu Ende. Innerhalb von vier Monaten verstarb sie. Dieser Schicksalsschlag rüttelte ihn auf und er fand zurück ins Leben. Nach und nach wurde er wieder der alte, agile, unternehmerische Schlegel und erinnerte sich an die Jugendstreiche mit Kamber und Holzer. Und so trafen sich die Pensionierten wieder regelmäßiger und heckten, einfach so zum Spaß und Nervenkitzel, kleine Verbrechen aus. Mehrheitlich waren es Kamber und Schlegel, die die entscheidenden Ideen hatten. Zusammen wurde dann über die mögliche Ausführung einer Operation gegrübelt, ging es doch nicht selten auch um technisches Know-how, das eben Holzer in Aktion treten ließ. Es war nicht das Geld, das sie antrieb. Nein! Es war der Nervenkitzel, die Ideen, die Durchführung, das Lampenfieber und die endlosen Diskussionen, die sie liebten und Salz und Pfeffer in ihren Alltag brachten. Der Raub in der Fraumünsterpost, sowie das Verschwinden einiger sehr kostbarer Bilder aus einer populären Kunstgalerie in Zürich gingen auf ihr Konto. Das Risiko war ihnen zwar bewusst, doch wählten sie nur ausgesprochen einfach durchführbare Operationen. Schließlich wollten sie nicht den Rest ihres Lebens hinter Schloss und Riegel verbringen. Sie bezeichneten sich nicht ohne Stolz als Gentleman-Räuber! Schlegels Zigarre wurde immer kürzer, das Glas war wieder leer, so entschied er sich, schlafen zu gehen. Alles war klar, ihre Operation konnte starten. Schlegel schmunzelte!
Übers Wochenende herrschte kaltes, aber trockenes Wetter, das auch für den Montag vorausgesagt wurde. Also ideal für ihr Vorhaben und so trafen sich die drei Freunde, wie besprochen, am Montagabend um 19.00 Uhr auf dem Münsterhof.
„Seid ihr bereit?“ vergewisserte sich Schlegel bei seinen Freunden.
„Ja, ich denke schon. Ich habe ein gutes Gefühl“, antwortete Holzer kurz.
„Das Wetter ist ideal und es hat so richtig schön viel Leute“, untermauerte Kamber seinen Willen.
„Also los, die Operation „Lucy“ hat begonnen, gehen wir“, verkündete Schlegel feierlich.
Holzer schlenderte gemächlich zur Bank, positionierte sich mit dem Rücken zur Quergasse und beobachtete das Treiben auf der Bahnhofstrasse. Schlegel und Kamber spazierten durch die Poststrasse, am Hotel Savoy vorbei zum Paradeplatz und wollten sich bei ihrem Freund Enrico, dem Marroniverkäufer, mit dem Kauf einer Tüte Marroni ein Quasi-Alibi verschaffen.
„Buonasera, Rico“, sagte Kamber und lehnte an den Verkaufsstand. Der Alte hob den Kopf von den zwei Töpfen und schaute erfreut zu den beiden Freunden herunter. „Buonasera, Signori! Marroni gefällig?“
„Natürlich, Rico, darum sind wir ja hier. Eine Saukälte heute Abend! Ich will mir etwas die Finger aufwärmen, schließlich dauert es noch ein Weilchen, bis wir die neue Beleuchtung endlich bewundern können“, sagte Schlegel und rieb sich demonstrativ die Finger.
„Sind drei hundert Gramm genügend?“ wollte Rico wissen und rührte die braunschwarz gerösteten Marroni in der großen Pfanne um.
„Nein, gib uns doch bitte fünfhundert“, antwortete Kamber und hielt ihm das Geld hin.
Rico füllte die Tüte ab, gab noch einige Marroni dazu, hielt Schlegel die Tüte hin und zählte Kamber anschließend das Wechselgeld heraus. Dann unterhielten sie sich noch etwas, um sich schließlich mit dem Hinweis, dass sie die Beleuchtung auf der Höhe der Nationalbank anschauen wollten, zu entfernen. So würde Enrico bei einer allfälligen Zeugenaussage diesen Hinweis, dass sich die Beiden in der entgegengesetzten Richtung des Raubes aufgehalten haben mussten, machen. Das war zwar wenig ausschlaggebend, aber immerhin eine Aussage über ihren möglichen Standort. Kamber und Schlegel flanierten die Bahnhofstrasse hinauf, winkten Rico nach einigen Metern nochmals zu und verschwanden dann in der immer grösser werdenden Menschenmenge. Bei der Nationalbank bogen sie rechts ab und umrundeten den Paradeplatz großräumig. So war es Enrico unmöglich zu sehen, wie sie via Pilatusstrasse, weit unterhalb des Paradeplatzes wieder zur Bahnhofstrasse gelangten. Sie stellten die Kragen ihrer Wintermäntel hoch, bedeckten Teile der Gesichter mit einem Schal, zogen die Hüte tiefer über die Augen und streiften leichte Lederhandschuhe über. Er und Kamber waren für Zürich keine Unbekannten und sie wollten nicht erkannt werden. Voneinander getrennt überquerten die Beiden die Bahnhofstrasse und gesellten sich endlich zu Holzer und bezogen Stellung. Holzer und Schlegel standen mit dem Rücken zur Gasse. Kamber, der Kleinste von ihnen, stand ihnen einen Meter entfernt gegenüber und hatte somit zwischen seinen Freunden hindurch guten Blick in die Gasse. Sie sprachen kein Wort. Leicht erregt, wie immer, wenn die Operation zum entscheidenden Moment kam, konsultierte Schlegel seine Uhr: 19.40 Uhr! Perfekt! Er beobachtete die fröhliche Menschenmasse, die voller Spannung auf das Beleuchten der zig-hundert Lichterketten wartete, die zig-Meter lang waren, in der Mitte und auf der gesamten Länge der Bahnhofstrasse hingen.
„Sie kommen“, knurrte Kamber nach wenigen Minuten des Wartens leise durch den Schal vor seinem Mund. „Sie sind zu zweit, tragen je zwei Kassetten, also total vier“, flüsterte er seinen beiden Freunden zu.
Die Spannung stieg von Sekunde zu Sekunde.
„Der eine öffnet die Metalltüre – und jetzt sind sie drin!“
Nach einer knappen Minute, die ihnen wie Stunden vorkamen, ging die Türe wieder auf und die beiden Geldtransporteure kamen heraus. Sie schauten kurz die Gasse rauf und runter und entfernten sich rasch um die Ecke.
„Jetzt!“
Kamber und Schlegel reagierten fast gleichzeitig. Kamber rannte schnell, so gut es in seinem Alter möglich war, durch die Gasse, lugte vorsichtig um die Ecke und sah die Beamten in den Transporter steigen. In der Zwischenzeit war Schlegel an der Türe angelangt, konsultierte nochmals seine Uhr, 30 Sekunden vorbei, und wartete geduldig auf Kambers Zeichen. Eben drehte sich Kamber zu Schlegel um und hob den Daumen seiner rechten Hand. Blitzschnell schloss Schlegel mit seinem Schlüssel, den er schon in seiner Hand hatte, auf und trat in den schmalen Gang. Er duckte sich zur ersten Kassette, drehte am Verschluss und öffnete den Deckel. Die Bündel waren deutlich mit Franken Zehntausend beschriftet. Hastig nahm er je drei Bündel, steckte sie sich in die Manteltaschen, entnahm nochmals je drei Bündel und hielt sie Kamber hin, der mittlerweile zurückgekommen war und in der Tür stand. Schließlich ergriff er sich nochmals je drei Bündel, schloss daraufhin die Kassette, erhob sich, schaute kontrollierend zurück und trat auf die Gasse hinaus. Mit einem metallischen Ton schloss sich die schwere Türe hinter den beiden wieder. Schleunigst ging er zu Holzer, gab ihm seinen Anteil und fragte leise: „Und, wie lange?“
„Eine Minute und zwanzig Sekunden“, antwortete Holzer und steckte die Bündel verdeckt in seine großen Manteltaschen.
„Na also, genießen wir “Lucy“, sagte Schlegel erleichtert und sie entfernten sich zielstrebig in Richtung Bahnhofplatz. Je weiter sie sich vom Tatort entfernten, desto stärker legte sich ihre Nervosität und Angespanntheit. Sie kamen in dieser großen Menschenmenge nur langsam voran. Auf Höhe der Zara-Filiale machten sie schon die ersten Scherze und lachten ausgelassen. Daraufhin überquerten sie schlendernd die Uraniastrasse und näherten sich der Pestalozziwiese. Plötzlich hörten sie Sirenengeheul! Schlegel zuckte zusammen! Er drehte sich um und sah, wie vier Einsatzwagen der Stadtpolizei von der Hauptwache direkt auf die Bahnhofstrasse fuhren und dort die Strasse hinter ihnen sperrten. Wieder hörten sie Sirenen und beobachteten, wie zwei weitere Wagen ganz unten beim Bahnhofplatz, in dieselbe Richtung, in die sie gingen, Stellung bezogen. Sie schauten einander an und erstmals kroch in Schlegel Panik hoch. Das konnte nicht sein! So schnell konnten sie den Raub nicht bemerkt haben. Das war unmöglich, beruhigte er sich selber. Sie blieben stehen und beobachteten, wie ihnen gegenüber von der Werdmühlestrasse her, ebenfalls Polizisten in Kampfmontur, in Position gingen. Schlegel drehte sich nervös zum Einkaufshaus Globus um und sah, dass sich auch vom Löwenplatz dutzende Uniformierte auf dem Weg zur Bahnhofstrasse befanden. Waren sie aufgeflogen? Was hatten sie falsch gemacht? Waren sie beobachtet worden, ohne dass sie es bemerkt hatten? Die Drei schlichen die Bahnhofstrasse entlang und bewegten sich weiter, näher zur Wiese. Nach außen gelassen, beobachtete Schlegel, wie die Polizisten vom Bahnhofplatz und der Uraniastrasse langsam, aber stetig weiter vorrückten.
Was sollten sie tun?
Angespannt suchte er die Blicke seiner Freunde. In den Gesichtern von Kamber und Holzer las er nackte Panik und wusste, dass ein sofortiger Entscheid gefragt war. Sie hatten nicht die Absicht, im Gefängnis zu landen.
Plötzlich ging ein lauter Aufschrei durch die anwesende Menschenmenge, die sich anscheinend nicht von den zahlreichen Polizeieinheiten irritieren ließen. Die neue Bahnhofstrassenbeleuchtung „Lucy“ erstrahlte klar und hell über ihren Köpfen und tauchte die staunenden Leute in ein gleißendes Lichtermeer. Schlegel und seine beiden Freunde waren mittlerweile vor dem Denkmal des Pestalozzi angekommen.
Fieberhaft überlegte er, wie sie aus diesem Schlamassel wieder herausfinden könnten, als unmittelbar hinter ihnen ein Heilsarmeechor zu einem Lied anstimmte. Er drehte sich um und stand vor einer Gruppe Salutisten, die einen ihrer zahlreichen Weihnachtssammelstände direkt vor der Wiese aufgestellt hatten.
Das war die Lösung!
Lächelnd ging Schlegel auf den großen Geldsammeltopf, der inmitten des singenden Chors stand, zu, griff in seine Manteltaschen und legte die sechs Bündel à zehntausend Franken diskret hinein. Die Salutisten nickten ihm dankend zu und er entfernte sich erleichtert ein paar Schritte. Seine beiden Freunde Kamber und Holzer taten es ihm gleich und gesellten sich zu ihm.
Scheinbar interessiert und dem Chor lauschend, beobachteten die drei angespannt, wie die Polizisten immer näher kamen - langsam an ihnen vorbeizogen, um schließlich vor dem Mc Donald Imbissrestaurant an der Ecke Bahnhofstrasse Globus Halt zu machen.
Die drei Freunde schauten sich erstaunt an.
Kamber war der Erste, der das Schweigen brach: „Das war knapp!“
„Wie gewonnen, so zerronnen“, meinte Schlegel lakonisch.
„Kommt, gehen wir nach Hause. Ich brauche einen kräftigen Drink. Diese neuartige Beleuchtung ist nichts für ältere Herren. Oder was meint ihr?“
Am darauffolgenden Morgen konnten sie der Presse entnehmen, dass während der Einweihungsfeier bei der Stadtpolizei ein anonymer Anrufer einen Bombenanschlag gegen das Schnellimbissrestaurant angekündigt hatte und sich die abendliche Sammelaktion der Heilsarmee als Grosserfolg herausstellte.

Über einen Bankraub fand sich keine Zeile.

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Heilig oder Abend?

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Shalom